Straßen verbinden ...
von Ludwig Schmidt-Herb
„In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat” - so lassen die Brüder Grimm ihre Märchensammlung beginnen. Sie erinnern damit an eine Welt, in der die Dinge tatsächlich auch das halten, was ihre Namen versprechen. Damals, in jenen alten Zeiten muß es gewesen sein, da hatten auch die Straßen solche Namen. Die haben, wenn sie zum Ort hinausführten, genau angegeben, wohin sie den Reisenden als nächstes führten.
So führte die Leimer Straße vom Dorf Rohrbach übers Feld nach Leimen, die Schönauer Straße von Ziegelhausen über den Berg nach Schönau, und auf der Ladenburger Straße kam man von Neuenheim am Neckar entlang gewiß nach Ladenburg. Zwar führt auch heute noch die Leimer Straße hinaus ins Feld, aber dort wird sie zum schmalen Weg, auf dem kein Auto mehr nach Leimen fahren darf. Die Schönauer Straße endet in einem Waldweg, auf dem man bestenfalls noch zu Fuß über den Berg nach Schönau kommt. Und die Ladenburger Straße führt erst gar nicht mehr aus der Stadt hinaus, sondern in ein Wohngebiet, wo sie dann Jahnstraße heißt und an der Berliner Straße endet. Und die Berliner Straße? Führt die etwa nach Berlin? Vielleicht ja, wenn man es sich nur recht heftig wünscht und lange genug fährt. Aber dann kann man ebenso gut auf der Leimer Straße oder der Schönauer Straße nach Berlin kommen, oder nach Basel, oder nach Paris.
Was ist also geschehen mit unseren Straßen und ihren Namen? Obwohl ihre Namen Orte verheißen, verschweigen sie, was wir als Reisende von ihnen erwarten können. Bei den Straßen, die einst Dörfer und Städte verbunden haben, ist das ja noch zu verstehen, wenn sie heute nicht mehr dorthin führen. Da hat sich einfach die Landschaft verändert, während die Straßen ihre alten Namen behalten haben. Was aber ist die Botschaft der Berliner Straße? Die hat noch nie nach Berlin geführt! Was will uns also ihr Name sagen?
In fast jeder westdeutschen Gemeinde war es in den 50-er und 60-er Jahren, in der Zeit des Kalten Krieges und des Wiederaufbaus, modern, die Straßen ihrer Neubaugebiete nach Städten zu benennen, die „drüben” lagen in den „Ostgebieten”. Damit sollte die „Verbundenheit” mit diesem Teil Deutschlands zum Ausdruck gebracht werden. So besitzt auch unsere Stadt nicht nur eine „Berliner Straße”, sondern auch eine Danziger, Görlitzer, Glatzer oder Oppelner und noch manch andere nach einer Oststadt benannte Straße. Diese Straßen sollten damals verbinden, aber nicht durch Verkehr, sondern durch Erinnerung. Mahnung sollten sie sein an Adenauers alte Wiedervereinigungsparole: „Dreigeteilt - niemals!”. Aber auch sie haben durch die Veränderung der - diesmal politischen - Landschaft ihre Bedeutung längst verloren.
In den 70er-Jahren hatte ich einen Freund, der war Lehrer in einer süddeutschen Kleinstadt und wohnte dort in der „Breslauer Straße”. Und weil für ihn nach Willi Brandts Ostverträgen klar war, daß die „Ostgebiete” jetzt endgültig als ein Teil Polens zu betrachten waren, so hielt er auch die alte Botschaft dieses Straßennamens für überholt. Breslau hieß jetzt polnisch Wroclaw. Er stellte bei der Verwaltung den Antrag, den Straßennamen in „Wroclawer Straße” umzubenennen, er schrieb Leserbriefe an die lokale Zeitung und entfachte dadurch heftige Debatten. Und er ließ sein Briefpapier ändern und hielt all seine Freunde an, ihm nur noch polnisch-korrekt an die „Wroclawer Straße” adressierte Briefe zu schicken. Das führte dazu, daß die Post diese Briefe mit dem Vermerk „Adresse unbekannt” zurückschickte. Inzwischen war mein Freund in eine andere Stadt versetzt worden und die Sache schien längst vergessen und erledigt. Da schickte er mir zu Beginn der 90-er Jahre einen Zeitungsartikel, in dem berichtet wurde, daß ausgerechnet jene Kleinstadt von damals nun eine Städtepartnerschaft mit Wroclaw geschlossen habe und daß aus diesem Anlaß die „Breslauer Straße” nun ganz offiziell in „Wroclawer Straße” umbenannt worden sei.
Was sind Straßennamen doch für geduldige Esel! Immer wieder verlieren sie ihre Beziehung zur Gegenwart und tragen dann die Bürde fremder Botschaften. Botschaften für wen? Für die Menschen, die auf diesen Straßen ihre Wege gehen? Nein, die benutzen die Straßen nur, um ihr Ziel zu erreichen. Für die Menschen, die an den Straßen wohnen? Die leiden höchstens unter solch unverständlichen Namen wie „Iqbal-Ufer” oder „Tinqueux-Allee”, weil sie diese immer wieder erklären und buchstabieren müssen und dabei nur Kopfschütteln ernten.
Blick ins Seckenheimer Gäßchen
Da lobe ich mir doch das Seckenheimer Gäßchen in Rohrbach. Das führt zwar nicht nach Seckenheim, es führt nirgendwo hin, denn es ist eine Sack-gasse. Es führt also nur heim: heim zu denen, die dort wohnen. Wenn ich wüßte, daß das Wünschen noch hilft, dann würde ich es in „Säckenheimer Gäßchen” (mit „ä”) umbenennen. Da hätten wir dann in unserer Stadt wieder einen ehrlichen Straßennamen, der auch hält, was er verspricht!